
Letztens hatte ich (Ralf) ein Gewaltpräventionsprojekt in einer Einrichtung für sozial „auffällige“ Kinder. ADHS, Autismus-Spektrum, psychiatrische Störungen, Inklusionskinder. „Raufen nach Regeln“ war das Thema. Passt nicht zusammen? Doch. Auch diese Kids raufen gerne – wie (fast) alle Kinder. Und das sollen sie auch. Aber eben ohne sich gegenseitig Schaden zuzufügen, also nach Regeln. Keine leichte Aufgabe...
Nach anderthalb Stunden, mitten im Spiel „Raufball“ passiert es: ein Kind kniet sich aus Versehen auf den Fuß eines Jungen. Unabsichtlich, nix Schlimmes, tat vermutlich nicht mal besonders weh. Aber… ach die Frustrationstoleranz. Was war das nochmal?
Naja, ein Wort ergibt das andere, die Stimmung schaukelt sich hoch und „vernünftig“ sprechende Erwachsene werden durch das Kind beschimpft. Mehrere Kinder schreien aus Leibeskräften – eine „Waffe“, die schon manchen Erwachsenen in die Flucht geschlagen hat. Die Nerven liegen blank. Das Kind rastet immer mehr aus, schlägt einen Erwachsenen, tritt und schlägt mit dem Kopf gegen die Wand, schreit unentwegt, beleidigt alle, die in der Nähe stehen. Ich halte mich etwas abseits und beobachte die Lage. Als der Junge zu mir kommt, frage ich ihn, ob er eine Pause braucht. Aber er ist gerade nicht erreichbar. Er beleidigt mich, schlägt nach mir… und da packe ich ihn und trage ihn wortlos mit ausgestreckten Armen aus dem Raum. Tür zu und den anderen wieder zugewandt. Eine Erzieherin geht zur Betreuung zu dem Kind. Der Junge tobt und schreit im Nebenraum, bis er von der Mutter abgeholt wird. Ende der Story.
Emotionen steuern unser Verhalten. Gelegentlich übernehmen sie die Kontrolle. Es gibt Kontexte, in denen das Sinn macht. Evolutionsbiologisch auf jeden Fall. Heute aber nicht mehr so oft, doch die Emotionen sind geblieben. Nicht nur bei Kindern übernehmen sie manchmal das Ruder.
Wut und Zorn machen im gesellschaftlichen Kontext oft etwas mit uns. Wir teilen Emotionen in „gut“ und „schlecht“ oder „erwünscht“ und „unerwünscht“ ein. Wut und Zorn werden besonders bei Kindern und Jugendlichen im schulischen Bereich als problematisch betrachtet. „Ausrastende“ Kinder stören den Unterricht und „Raufereien“ auf dem Schulhof machen den Aufsichtspersonen oft Angst. Manchen wäre es am liebsten, wenn Wut oder Zorn gar nicht mehr im Alltag auftreten würden.
Doch das ist natürlich Unsinn. Wut hat ihre biologische Funktion. Stresshormone werden aktiv, der Blutdruck steigt, Organe werden stärker mit Blut versorgt und wir sind bereit, mit voller Energie auf Ärger, Stress und Gefahr zu reagieren. Wut kann auch dabei helfen, dass man die eigenen Ziele erreicht, sich besser konzentrieren kann und mehr Aufgaben bewältigt. Wut tritt auf, wenn psychologische Grundbedürfnisse verletzt werden, z.B. das Bedürfnis nach sozialen Beziehungen, nach Kontrolle und Selbstbestimmung, das eigene Selbstbild oder um positive Erfahrungen zu machen und negative zu vermeiden.
Dabei wird in wissenschaftlichen Kontexten zwischen zwei Arten von Wut unterschieden: State Anger und Trait Anger. Während der erstgenannte wieder abebbt und der Mensch seine innere Ruhe wiederfindet, ist letztgenannter eine dauerhafte Anstauung von Wut, die psychotherapeutisch behandelt werden sollte. Aggressivität und Gewalttätigkeit wären dann Persönlichkeitsmerkmale.
In unseren Trainingsstunden erleben wir häufig zwei Extreme im Umgang mit Wut und Zorn. Entweder ein völliges Ausleben ohne Rücksicht auf Verluste oder ein Unterdrücken der Wut, um nicht unangenehm aufzufallen.
Wie aber damit umgehen, wenn ein Kind oder Jugendlicher die emotionale Kontrolle verliert und „ausrastet“? Öfter hört man den Rat, dass man die Aggressionen ausleben sollte. Man spricht hier vom „Katharsis-Effekt“. Eine Studie des Psychologen Brad Bushman von 2002[1] kommt allerdings zu dem Schluss, dass dies ein Holzweg ist. Das Ausleben von Aggressionen mindert nicht die Wut. Eher im Gegenteil.
Was hilft, ist die Reflexion der eigenen Gefühle. Man muss sich klarwerden, welches Grundbedürfnis nun wie verletzt wurde. Natürlich geht das nicht sofort, auch hier ist die Zeit unser Freund. Abstand vom Ereignis. Vielleicht kann es sinnvoll sein, ein Kind erstmal „sich abreagieren“ zu lassen, in einem geschützten Rahmen, bis das Energielevel etwas niedriger ist, um später die Situation zu besprechen. Generell sollte jede(r) lernen, sich selbst zu reflektieren, um die Trigger zu kennen und daran zu arbeiten. Bei Kindern sollten wir das angemessen unterstützen, indem wir sie Erfahrungen machen lassen und ihnen dann einen Rahmen zur Selbstreflexion geben. Ungehemmte Emotionen helfen uns selten. Wir leben nicht mehr mit Mammuts und Säbelzahntigern zusammen.
Unterdrückte Emotionen sind auch keine Lösung. Psychologen warnen mittlerweile, dass unterdrückte Wut oft zu destruktivem Verhalten sich selbst gegenüber oder auch zu tiefer Traurigkeit bis hin zur Depression führen kann.
Und wie ging es in meinem Projekt weiter? Nachdem ich den Jungen aus dem Raum getragen habe und zurück in die Gruppe komme, starren mich einige der Kids mit weit aufgerissenen Augen an. „Aaaalter! Habt Ihr das gesehen? Eh, mit dem will ich keinen Ärger! Legt Euch bloß nicht mit dem an!!“ ruft ein älterer Junge mit weit aufgerissenen Augen und sichtlich beeindruckt. Den Respekt der Kids habe ich jedenfalls. Den Ausgeschlossenen wieder einzugliedern war an dem Tag leider nicht mehr möglich. Aber wir sollten uns klar sein, dass wir manchmal nichts weiter tun können, als einen Schaden zu begrenzen. Jedenfalls kurzfristig. Das Projekt ging weiter und bekam viel positives Feedback von den Kids. Deren Frage zum Schluss: „Wann kommt Ihr wieder?“
In unseren Trainings, Workshops, Seminaren, Schulinternen Lehrerfortbildungen (SCHILF) und noch tiefgreifender in unserer Ausbildung zur/zum Trainer*in für Gewaltprävention und Sozialkompetenz gehen wir immer wieder auf das Thema „gesunder Umgang mit Wut und Zorn“ ein, denn nur wenn die Kinder und Jugendlichen lernen, ihre Emotionen begleitet ausleben zu dürfen, haben sie später die Chance gesund damit umzugehen.
Ralf Nosko & Sascha Klemin
[1] Brad Bushman: Does Venting Anger Feed or Extinguish the Flame? Catharsis, Rumination, Distraction, Anger, and Aggressive Responding; in: Personality and Social Psychology Bulletin, 2002
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